Konfuzianismus: Die »fünf menschlichen Beziehungen«

Konfuzianismus: Die »fünf menschlichen Beziehungen«
Konfuzianismus: Die »fünf menschlichen Beziehungen«
 
Der Konfuzianismus wird als das geistige Fundament der Kultur Chinas und weiter Teile Ostasiens gesehen, vergleichbar mit dem Christentum für Europa und dem Islam für die arabische Welt. Im Gegensatz zu diesen beiden Weltreligionen entzieht sich der Konfuzianismus jedoch einer eindeutigen Zuordnung zu Religion, Philosophie oder Staatslehre.
 
Konfuzius - der Name ist eine Latinisierung der ehrenvollen Bezeichnung »Kongfuzi« (= Meister Kong) - lebte von 551 bis 479 v. Chr. Er stammte aus dem Fürstenstaat Lu im Nordosten von China, der heutigen Halbinsel Shandong. Der Staat Lu war stolz auf seine direkte Abstammung von den Gründern und berühmten Regenten der Zhou-Dynastie (etwa 11. Jahrhundert bis 256 v. Chr.). Zur Zeit des Konfuzius war der Glanz des Herrscherhauses jedoch verflossen und der Himmelssohn, der Kaiser, vollzog nur noch kultische Handlungen, während die politische Macht längst in die Hände der Fürstenhäuser übergegangen war. Konfuzius selbst sah sich nicht als Gründer einer Lehre sondern als Überlieferer der zu seiner Zeit verloren gegangenen früheren Werte und Gesellschaftsform (dao), die er in alten Schriften noch erhalten sah. Auskunft über seine Lehre gibt eine Sammlung von Dialogen, die Konfuzius mit seinen Schülern führte. In der Mitte seiner Vorstellungen steht der Mensch, den Konfuzius allein von seinem »Menschsein« (ren) her anspricht, das er in der Bildung in den überlieferten Schriften und dem Vollziehen der dem alten Weg (dao) entsprechenden Handlungen erst zu voller Kraft entwickelt sah. Die Normen dieser Handlungen waren die Riten (li), die, ursprünglich aus dem sakralen Bereich stammend, auf den gesellschaftlichen ausgeweitet wurden. In dem »Mandat des Himmels« (tian ming), mit der die Zhou ihre Vormachtstellung der bis dahin überlegenen Shang rechtfertigten, lässt sich ein Vorläufer für die konfuzianische Wendung zum Menschen hin finden. Nach dieser Auffassung ist die politische Autorität des Herrscherhauses an die moralische Tugend (de) des Herrschers und nicht an seine göttliche Abstammung gebunden. Die Idee der Abstammung wurde im Konfuzianismus in der Ahnenverehrung im Rahmen der Familie umgesetzt.
 
Die Schule des Konfuzius erlebte kurz nach seinem Tod eine Aufsplitterung, und Kritik strömte ihr von vielen Seiten entgegen. Mo Di wandte sich beispielsweise gegen die moralische Interpretation des Menschen und zeichnete das Bild einer egalitären, auf gegenseitige Hilfeleistungen basierenden Gesellschaft. Das Band, das die konfuzianische Gesellschaft durch die Riten mit dem Himmel verband, zerschnitt Mo Di mit einem extremen Fatalismus. Völlig entgegengesetzt äußerte sich die Kritik der Daoisten an den Konfuzianern. Für sie bedeutete die Herausstellung des Menschen eine Verfremdung von seiner eigentlichen Lebenswirklichkeit. Der Kritik der anderen Schulen setzte im 4./3. Jahrhundert v. Chr. der Konfuzianer Mengzi (»Meister Meng«, im Westen meist unter seiner latinisierten Namensform Menzius bekannt) seine Lehre von der Verankerung der Moral in der a priori guten Natur des Menschen entgegen, während ein halbes Jahrhundert später Xunzi die Erziehung des von Natur aus schlechten Menschen zur Moral anhand der Riten forderte.
 
Die Ächtung der konfuzianische Lehre 213 v. Chr. unter dem Staat Qin, der nach dem Zusammenbruch der Herrschaft der Zhou und den bitteren Kriegen der Fürstenstaaten das chinesische Reich wieder einte, bedeutete für den Konfuzianismus einen tiefen Einschnitt in seine Tradition. In der Han-Zeit (206 v. Chr. bis 220 n. Chr.) wurde die konfuzianische Lehre wieder belebt. Allerdings zeichnete sie sich zu diesem Zeitpunkt durch einen Synkretismus mit den ganzheitlichen Lehren der Yin-Yang-Schule aus, die auf der Vorstellung von den beiden polaren Grundprinzipien Yin und Yang gründen, aus deren Wechselspiel die Dinge und das Universum entstehen und sich ständig ändern. In die Exegese der konfuzianischen Schriften floss die religiöse Verehrung von Konfuzius ein. Mit der Reformierung der Bürokratie zu Beginn des ersten vorchristlichen Jahrhunderts wurden Lehrstühle für die Lehre verschiedener konfuzianischer Schriften und exegetischer Richtungen eingerichtet, aus denen sich die für die Zeremonien und Rituale am Hof und für den Staatskult zuständige konfuzianische Beamtenschicht rekrutierte. Dies markierte den Anfang des Staatskonfuzianismus, der das Gesicht des chinesischen Staates bis zum Ende der Kaiserzeit Anfang des 20. Jahrhunderts prägen sollte. Zu einer weiteren Ideologisierung des Konfuzianismus führte eine zweite exegetische Richtung, die sich von den etablierten absetzte und vorgab, sich auf echtere konfuzianische Texte zu stützen. In diesen Texten steht das Ideal der früheren Herrschaft der Zhou im Vordergrund. Sie tragen chiliastische Züge und werden durch die Erwartung eines göttlichen Reiches auf Erden geprägt. Trotz der Diskreditierung, die diese Richtung durch ihre Verbindung mit dem Thronräuber Wang Mang in den ersten beiden nachchristlichen Jahrzehnten erfuhr, stellte sie für mehr als anderthalb Jahrtausende die orthodoxe Fassung der konfuzianischen Schriften dar.
 
Vom Ende der Han-Zeit bis in die Tang-Zeit (618 bis 907) hinein war das geistige Klima Chinas von Buddhismus und Daoismus bestimmt. Nach der langen Zeit der Teilung Chinas in verschiedene Reiche mit jeweils rasch aufeinander folgenden Dynastien entwickelte sich jedoch mit der Sammlung des traditionellen Schrifttums gegen Ende des 6. Jahrhunderts und mit der Wiedereinführung der auf den konfuzianischen Texten basierenden Beamtenprüfungen in der Tang-Zeit das Bewusstsein einer auf Konfuzius beruhenden, vergangenen geistigen Tradition. Der Wunsch nach Erneuerung drückte sich zuerst auf literarischem Gebiet aus. Daran anknüpfend waren in der Song-Zeit (960 bis 1279) die Restauration der ursprünglichen konfuzianischen Lehre und die Wiedererweckung ihrer wahren Tradition die bestimmende Idee der Zeit.
 
Im Mittelpunkt der neuen konfuzianischen Lehren steht die Teilhabe des Menschen dank seiner menschlichen Natur an einem den ganzen Kosmos durchdringenden Prinzip, das von sich aus moralisch gut und einsichtig ist, dem Menschen durch seine sinnliche Beschaffenheit jedoch gleichsam verborgen und verdeckt ist. Daraus leitet sich die ethische Forderung ab, den ursprünglichen Zustand seiner menschlichen Natur wiederherzustellen und in seinem Handeln umzusetzen. Diese neokonfuzianische Lehre war trotz ihres Anspruchs, die wahre Lehrtradition von Konfuzius und Menzius fortzuführen, eine Mischung aus Buddhismus, Daoismus und Konfuzianismus. Sie entwickelte sich in Zirkeln um einzelne Gelehrte und wurde vom Staatskonfuzianismus wechselnd gefördert und unterdrückt. Philosophisch gesehen entwickelten sich im Neokonfuzianismus unterschiedliche Systeme, die von einem extremen Idealismus bis zum Realismus reichten. Mit der Wiederaufnahme der zu Beginn der Mongolenherrschaft (Yuan-Dynastie, 1280 bis 1367) abgeschafften Beamtenprüfungen im Jahr 1315 n. Chr. erlangte der Neokonfuzianismus den endgültigen Durchbruch: Die Kommentare der neokonfuzianischen Denker zu den kanonischen Schriften ersetzten die bis dahin für richtig befundenen Kommentare der Han- und Tang-Gelehrten, was nicht zuletzt auf die tief gehende und weit reichende Gelehrsamkeit des Neokonfuzianismus zurückzuführen ist.
 
Einen erneuten Einschnitt in der Entwicklung des Konfuzianismus brachte die Herrschaft der Mandschu (Qing-Dynastie, 1644 bis 1911). Für die Eroberung Chinas machten weite Kreise der Gelehrten die spekulative Ausrichtung der konfuzianischen Lehre, die diese in der Song- und Ming-Zeit (1368 bis 1643) erfuhr, mitverantwortlich. Sie verwarfen den Gedanken der Teilhabe der menschlichen Wesensnatur am kosmischen Prinzip und suchten nach anderen Begründungen der konfuzianischen Ethik. Nicht zuletzt auch als Nische der Gelehrsamkeit entstand eine umfangreiche philologische Forschung, die die songzeitlichen Kommentare zugunsten der früheren Kommentare ablehnte. Im Rahmen der Suche nach dem wahren Gehalt der Lehre des Konfuzius wurden die verschiedenen Schalen, die sich im Lauf der Zeit als Tradition um sie gelegt haben, Schicht um Schicht abgetragen, ohne dass ein Kern gefunden werden konnte. Gleichsam als Produkt der philologischen Methodik wie auch als Gegenbewegung zu ihrer metaphysischen Enthaltsamkeit ist die im 19. Jahrhundert aufkommende Strömung zu sehen, dem Konfuzianismus das Bild einer reformistischen Soziallehre zu geben. In den folgenden Auseinandersetzungen mit den westlichen Lehren Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts wurde die Frage nach der wahren Lehre des Konfuzius zu einer Frage der nationalen Identität. Doch die richtige Erwiderung auf die neuen westlichen Lehren konnte nicht gefunden werden, und die Lehre wurde schließlich von der Zeit überholt. Anfang des 20. Jahrhunderts zerbrach eine bilderstürmerische Studiengemeinschaft den Nimbus der kanonischen Bücher des Konfuzianismus und zerrte seine Legenden um die ideale Herrschaft des Altertums ans Licht der modernen wissenschaftlichen Forschung.
 
Mit der kommunistischen Regierung in China wurde die konfuzianische Erziehung zuerst als rückständig und der feudalen Gesellschaft zugehörig verfemt, nach der Kulturrevolution jedoch rehabilitiert und zum nationalen Kulturerbe erklärt. Anders als diese eher museale Beschäftigung mit dem Konfuzianismus propagierten außerhalb der Volksrepublik China entstandene Organisationen dessen Werte als eine chinesische, der heutigen Zeit entsprechende gesellschaftliche Grundlage. Diese Mission fand in den intellektuellen Diskussionen der Volksrepublik zunehmend Beachtung. So entspann sich Mitte der achtziger Jahre die Diskussion um die Neubewertung des neokonfuzianischen Idealismus, die die Frage nach der Stellung des Individuums in der Gesellschaft zum eigentlichen Inhalt hatte.
 
Dr. Dennis Schilling
 
 
Schmidt-Glintzer, Helwig: Geschichte der chinesischen Literatur. Die 3000jährige Entwicklung der poetischen, erzählenden und philosophisch-religiösen Literatur Chinas von den Anfängen bis zur Gegenwart. Bern u. a. 1990.

Universal-Lexikon. 2012.

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